
Oder: Wie du die nächsten 48 Stunden ohne Photoshop überstehst (vielleicht)
Es ist soweit. Der Moment, vor dem du dich das ganze Jahr gefürchtet hast. Die Agentur ist zu. Die Kunden sind still. Das Telefon klingelt nicht. Keine E-Mail mit „nur noch eine klitzekleine Änderung“. Keine WhatsApp mit „kannst du mal schnell“. Nichts.
Stille.
Du sitzt da, wahrscheinlich auf irgendeiner Couch bei irgendwelchen Verwandten, und weißt nicht, wohin mit deinen Händen. Diese Hände, die normalerweise sechzehn Stunden am Tag über Tastatur und Grafiktablett fliegen. Diese Hände, die jetzt nutzlos in deinem Schoß liegen und sich anfühlen wie Fremdkörper.
Willkommen zu Weihnachten. Der gefährlichsten Zeit des Jahres für Menschen wie uns.
Ich weiß, was du gerade denkst. Du denkst: „Ich könnte ja kurz Photoshop öffnen. Nur gucken. Nur mal schauen, ob alles noch funktioniert. Vielleicht ein bisschen an diesem persönlichen Projekt arbeiten, das seit März im Ordner ‚Irgendwann‘ verstaubt.“
Nein. Leg das Laptop weg. Ich meine es ernst.
Okay, ich meine es nicht ernst. Ich bin auch einer von uns. Ich verstehe. Aber lass uns wenigstens so tun, als würden wir Weihnachten „richtig“ machen. Als wären wir normale Menschen, die an Feiertagen einfach entspannen können. Als hätten wir nicht diesen permanenten Juckreiz in den Fingern, wenn wir länger als drei Stunden kein Bild bearbeitet haben.
Das Erste, was du akzeptieren musst, ist: Die Welt geht nicht unter, wenn du zwei Tage nicht arbeitest. Ich weiß, das klingt radikal. Es fühlt sich falsch an. Es widerspricht allem, woran wir glauben. Aber es ist wahr. Die Deadlines sind immer noch da, wenn du am 27. aufwachst. Die Projekte laufen nicht weg. Die Kunden werden nicht plötzlich feststellen, dass sie dich nicht mehr brauchen, nur weil du 48 Stunden lang nicht erreichbar warst.
Im Gegenteil: Sie werden dich am 27. umso mehr brauchen, weil sie in der Zwischenzeit dreizehn neue „dringende“ Ideen hatten, die alle bis zum 2. Januar fertig sein müssen. Aber das ist ein Problem für das zukünftige Du. Das jetzige Du darf sich entspannen.
Falls du noch weißt, wie das geht.
Lass uns über konkrete Überlebensstrategien sprechen. Nicht diese generischen „nimm ein Bad und lies ein Buch“-Ratschläge, die offensichtlich von Menschen geschrieben wurden, die noch nie in ihrem Leben drei Wochen an einem einzigen Composing gearbeitet haben. Echte Strategien. Für echte Kreative.
Erstens: Akzeptiere, dass du Weihnachtsdeko anders siehst als normale Menschen. Wenn deine Tante den Christbaum schmückt und du innerlich analysierst, wie man die Lichterketten besser hätte arrangieren können, um die Schatten interessanter zu gestalten – das ist normal. Für uns. Du bist nicht kaputt. Du hast einfach einen Blick entwickelt, der sich nicht abschalten lässt. Genieße es. Mach ein Foto. Bearbeite es am 27.
Zweitens: Die Verwandten werden Fragen stellen. Sie werden wissen wollen, „was du eigentlich genau machst“. Du wirst versuchen, es zu erklären. Sie werden nicken und absolut nichts verstehen. Das ist okay. Sag einfach „ich mache Sachen am Computer schön“ und wechsle das Thema. Es ist einfacher für alle Beteiligten.
Drittens: Irgendwer wird dich bitten, „mal schnell“ ein Foto zu bearbeiten. Omas Bild vom Sommer, das ein bisschen dunkel geraten ist. Oder das Handyfoto vom Cousin, das für Instagram „aufgehübscht“ werden soll. Du hast zwei Optionen: Du sagst nein und fühlst dich wie ein Unmensch. Oder du sagst ja, öffnest die Datei, und verbringst die nächsten drei Stunden in einem Bearbeitungsrausch, weil du einfach nicht aufhören kannst, wenn du einmal angefangen hast. Ich empfehle Option eins. Aber ich weiß auch, dass du Option zwei wählen wirst.
Hier ist ein Gedanke, der dir vielleicht hilft: Diese zwei Tage Pause sind nicht Zeitverschwendung. Sie sind Investition. Dein Gehirn braucht Leerlauf, um zu verarbeiten, was du das ganze Jahr gesehen, gelernt und erschaffen hast. Die besten Ideen kommen nicht, wenn du vor dem Bildschirm sitzt und sie erzwingst. Sie kommen, wenn du auf irgendeiner Familienfeier Kartoffelsalat isst und plötzlich weißt, wie du dieses verdammte Composing endlich lösen kannst, an dem du seit November verzweifelst.
Das ist wissenschaftlich belegt. Irgendwo. Wahrscheinlich. Und selbst wenn nicht – es klingt gut, oder? Erzähl es dir selbst, während du auf das Laptop schielst, das im Nebenzimmer auf dich wartet.
Was du tun solltest, ist: Menschen anschauen. Nicht durch den Sucher einer Kamera. Nicht als potenzielle Motive für dein nächstes Porträtprojekt. Einfach anschauen. Wie sie reden, lachen, sich bewegen. Wie das Kerzenlicht auf ihren Gesichtern spielt. Wie die Stimmung wechselt zwischen laut und still, zwischen Chaos und Frieden.
Du wirst feststellen, dass das fast so interessant ist wie ein gutes Stockfoto. Manchmal sogar interessanter. Und du wirst am 27. bessere Bilder machen, weil du daran erinnert wurdest, worum es eigentlich geht: um Menschen. Um Momente. Um Gefühle, die wir in Pixel übersetzen.
Oder du machst heimlich doch ein paar Fotos. Ich urteile nicht.
Ein Wort zu Netflix und anderen Streaming-Diensten: Sie werden dich nicht retten. Du wirst jede Szene analysieren. Du wirst das Color Grading beurteilen. Du wirst dich fragen, wie sie das gemacht haben. Du wirst innerlich Notizen machen für dein eigenes nächstes Projekt. Das ist keine Entspannung. Das ist berufliche Weiterbildung im Tarnmodus.
Aber es ist immerhin etwas. Und du sitzt dabei. Mit Menschen. Die neben dir sitzen und den Film ganz anders erleben – ohne ständig über Farbtemperatur nachzudenken. Es ist fast niedlich, wie sie einfach nur die Geschichte verfolgen, ohne sich zu fragen, welche Software für die VFX verwendet wurde.
Jetzt kommen wir zum heiklen Teil: Was ist, wenn die Unruhe zu groß wird? Wenn die Finger zucken? Wenn der kreative Drang sich nicht mehr unterdrücken lässt?
Dann gib nach. Aber mit Stil.
Nimm ein Skizzenbuch. Analog. Papier. So etwas Altmodisches. Zeichne, was du siehst. Kritzel vor dich hin. Es muss nicht gut sein. Es muss überhaupt nichts sein. Es ist nur eine Möglichkeit, die kreative Energie abzulassen, ohne dass du dich am ersten Weihnachtsfeiertag im Keller vor dem Rechner versteckst wie ein Junkie auf Entzug.
Alternativ: Mach Fotos mit dem Handy. Aber bearbeite sie nicht. Noch nicht. Lass sie einfach da. Sammle Rohmaterial. Füttere das Archiv. Es ist wie Einkaufen für zukünftige Projekte, ohne dass du wirklich arbeitest. Ein Schlupfloch im System.
Ich werde dir jetzt etwas gestehen: Ich schreibe diesen Text nicht, weil ich es besser weiß. Ich schreibe ihn, weil ich selbst diese Anleitung brauche. Weil ich genauso bin wie du. Weil ich in zehn Minuten wahrscheinlich doch irgendwo ein RAW-File öffne, „nur um kurz zu schauen“. Weil die Vorstellung von zwei Tagen ohne kreativen Output mich genauso nervös macht wie dich.
Wir sind merkwürdige Menschen, wir Kreativen. Wir haben uns Berufe ausgesucht, die nie wirklich aufhören. Die in unseren Köpfen weiterlaufen, egal ob wir am Schreibtisch sitzen oder beim Weihnachtsessen. Die uns nachts wach halten und morgens als erstes an uns denken lassen – noch vor dem Kaffee, was wirklich beunruhigend ist, wenn man mal darüber nachdenkt.
Aber vielleicht ist das auch okay. Vielleicht ist diese Obsession genau das, was uns gut macht in dem, was wir tun. Vielleicht ist der Juckreiz in den Fingern ein Zeichen dafür, dass wir den richtigen Beruf gewählt haben. Vielleicht sollten wir aufhören, uns dafür zu schämen, und anfangen, es zu akzeptieren.
Also hier ist mein Vorschlag für die nächsten zwei Tage:
Sei anwesend, soweit es dir möglich ist. Genieße das Essen, auch wenn du dir wünschst, es wäre besser ausgeleuchtet. Höre den Gesprächen zu, auch wenn dein Kopf zwischendurch zu diesem einen Projekt abdriftet. Mach Fotos, wenn du willst. Lass Photoshop zu, wenn es nicht mehr anders geht. Aber vergiss nicht, zwischendurch auch mal aufzuschauen.
Die Menschen um dich herum sind echtes Leben. Kein Stock-Material. Keine Kundenreferenz. Echtes, unbearbeitetes, manchmal unscharfes, oft unterbelichtetes echtes Leben.
Und das ist, wenn man mal ehrlich ist, ziemlich beeindruckend.
Frohe Weihnachten, du ruheloser Kreativer. Du überarbeiteter Pixelschubser. Du obsessiver Perfektionist.
Wir sehen uns am 27. – mit vollen Akkus, neuen Ideen und dieser einen Szene vom Heiligabend, die du unbedingt nachstellen willst, weil das Licht so unfassbar schön war.
Ich weiß, dass du heimlich ein Foto gemacht hast.
Ich hätte es auch getan.
Und jetzt leg wirklich das Laptop weg. Mindestens für eine Stunde. Du schaffst das. Wahrscheinlich.
























