Kunst ist, was der Künstler sagt – eine lange Geschichte über Werkzeuge, Zweifel und das ewige Gejammer

Teil 1: Die frühen Jahre – Pixel, Papier und Zweifel
Es war in den 80ern, als ich das erste Mal mit Computergrafik in Berührung kam. Heute wirkt das fast naiv, wie grobe Pixel über einen Röhrenmonitor flimmerten. Aber damals war es eine kleine Revolution. Ich saß oft stundenlang vor dem Rechner, baute Linien, Flächen, Muster. Für mich waren diese Bilder mehr als nur Technik. Sie waren wie kleine Fenster in eine neue Welt.
Doch wenn jemand hinter mir stand, hörte ich nicht selten ein skeptisches Räuspern. „Das ist doch keine Kunst, das ist nur Computer.“ Diese Worte trafen mich, obwohl ich wusste, dass ich etwas Neues ausprobierte. In jedem Pixel steckte eine Entscheidung, in jedem Muster ein Gedanke. Es war mein Ausdruck – und für mich war das Kunst.
Schon damals habe ich begriffen: Menschen reagieren mit Abwehr, wenn ein Werkzeug auftaucht, das sie nicht verstehen. Es geht nie nur um Ästhetik, es geht um Macht. Um Deutungshoheit. Wer bisher gesagt hat, „das ist Kunst“, fühlt sich plötzlich entmachtet, wenn ein Schüler mit einem Heimcomputer Bilder baut, die anders sind als alles, was vorher war.
Doch ich machte weiter. Ich hatte noch nie darauf gewartet, dass andere mir das Etikett „Kunst“ geben. Ich wusste: Kunst ist das, was ich mit meinem Blick auf die Welt formuliere – egal, ob mit Stift, Pinsel oder Pixel.
Teil 2: Der Sprung ins Digitale – Fotografie im Umbruch
Die 90er waren ein neues Schlachtfeld. Ich hatte längst auch mit Fotografie gearbeitet, analog, mit Chemie und Dunkelkammer. Stundenlang stand ich im roten Licht, drehte Spulen, wusch Negative, hielt sie prüfend gegen die Lampe.
Und dann kam die digitale Wende. Plötzlich hieß es: „Das ist doch keine Fotografie mehr. Ein echter Fotograf arbeitet analog!“ Ich musste schmunzeln. Denn dieselben Leute, die jetzt auf „Echtheit“ pochten, hatten nie ein Problem damit gehabt, im Labor zu manipulieren: Belichtungszeiten verlängern, Negative beschneiden, Kontraste hochziehen. Alles war schon immer Manipulation. Der Unterschied war nur: Digital machte sichtbar, was zuvor hinter Chemie und Dunkelkammer verborgen war.
Aber genau das machte Digitalfotografie so spannend. Sie hat das Geheimnis gelüftet: dass Fotografie nie die „Wahrheit“ zeigt, sondern immer eine Entscheidung. Welcher Ausschnitt? Welche Linse? Welche Belichtung? Welcher Moment?
Für mich war dieser Übergang keine Bedrohung, sondern ein Befreiungsschlag. Ich konnte experimentieren, schneller reagieren, präziser arbeiten. Und ich verstand: Die Kunst liegt nicht in der Technik, sondern im Blick.
Teil 3: Photoshop, KI und das wiederkehrende Echo
Als Photoshop kam, explodierte die Diskussion. Auf einmal konnte jeder Bilder verfremden, retuschieren, zusammensetzen. Und sofort schallte es: „Das ist Fake! Das ist Betrug! Das hat nichts mehr mit Fotografie zu tun!“
Ich dachte zurück an meine Schulzeit, als meine Zeichnungen abgetan wurden mit: „Das ist doch nur Gekritzel.“ Ich dachte an die Pixel der 80er und die digitale Fotografie der 90er. Und ich erkannte: Das Muster wiederholt sich. Immer.
Heute ist es die KI. Und wieder höre ich denselben Refrain: „Das ist doch keine Kunst. Das macht doch die Maschine.“ Aber das ist falsch. Keine Maschine entscheidet, was bleibt. Keine Maschine trägt Verantwortung. Das tue ich.
Ich nenne meine Arbeit Synthografie – weil sie zusammengesetzt ist aus Fotografie, Compositing, KI-Fragmenten und physischem Finishing. Aber das Etikett ist letztlich egal. Entscheidend ist: Jedes Bild ist eine Entscheidung. Meine Entscheidung.
Und darum sage ich heute: Wer behauptet, das sei keine Kunst, sagt damit eigentlich nur: „Ich habe Angst, dass mein Werkzeug, mein Status, meine Sicherheit verschwindet.“ Aber das ist ihr Problem, nicht meins.
Teil 4: Die Aura und der Mythos der Reinheit
Schon Walter Benjamin schrieb über die „Aura“ des Kunstwerks – diese fast mystische Einzigartigkeit, die angeblich verschwindet, sobald man ein Werk reproduziert. Jeder technische Sprung hat diese Angst neu entfacht. Die Fotografie sollte die Aura zerstören. Der Druck, das Kino, die digitale Reproduktion – immer wieder hieß es: „Jetzt ist das Ende der Kunst erreicht.“
Aber die Aura ist nicht verschwunden. Sie ist nur gewandert. Früher lag sie im Unikat, im handgemalten Bild, in der physischen Berührung des Materials. Heute liegt sie in der Autorschaft, in der Intention, in der Präsentation.
Ein KI-Bild auf dem Bildschirm kann austauschbar wirken. Aber wenn ich es auswähle, bearbeite, präsentiere, ihm einen Titel gebe, es drucke, rahme, ins Licht setze – dann hat es eine Aura. Sie entsteht nicht durch das Werkzeug, sondern durch die Entscheidung des Künstlers, wie etwas in die Welt gestellt wird.
Das ist vielleicht das größte Missverständnis in all diesen Debatten: dass man glaubt, Kunst sei eine Frage der Technik. Nein. Sie ist eine Frage der Haltung.
Teil 5: Ethik, Verantwortung und das Verwerfen
Die Diskussion über KI hat eine Ebene eröffnet, die vorher oft verdrängt wurde: die Ethik der Herstellung.
Wer trainiert die Modelle? Wessen Daten sind darin enthalten? Wessen Stimmen, wessen Bilder werden zitiert oder vereinnahmt?
Diese Fragen muss man stellen. Nicht, um Kunst zu verbieten, sondern um Kunst ehrlich zu machen. Denn ein Bild ist immer auch ein sozialer Akt. Es trägt nicht nur Pixel, es trägt Verantwortung.
Ich merke, dass ich heute viel mehr Bilder verwerfe, als ich veröffentliche. Nicht, weil sie „schlecht“ wären – sondern weil sie sich nicht richtig anfühlen. Weil sie nicht zu meiner Haltung passen. Weil sie Lücken reißen, die ich nicht füllen will.
Das Verwerfen ist die unsichtbare Arbeit, die keiner sieht. Aber es ist vielleicht die wichtigste. Kunst entsteht nicht nur im Erzeugen, sondern vor allem im Nein. Und dieses Nein ist heute schwerer als früher, weil die Möglichkeiten endlos scheinen. Aber genau darin liegt die Prüfung: Kann ich auswählen, kann ich verzichten, kann ich mich fokussieren?
Teil 6: Meine Ruhe im Lärm
Wenn ich heute zurückblicke, sehe ich eine Linie: Schülerzeichnungen, Computergrafik, Digitalfotografie, Photoshop, KI. Und daneben sehe ich immer dieselbe Wolke aus Stimmen, die jammern: „Das ist keine Kunst.“
Früher hat mich das getroffen. Heute lächle ich. Weil ich weiß, dass Kunst immer da war, wo jemand mit Mut eine Grenze überschritten hat.
Das Gejammer wird nie verschwinden. Es ist der Soundtrack jeder Neuerung. Aber ich habe gelernt, es wie Hintergrundrauschen zu hören. Ich weiß: Solange ich eine Intention habe, solange ich Entscheidungen treffe, solange ich meine Bilder in die Welt setze, ist das Kunst.
Nicht, weil andere es so nennen – sondern weil ich es so nenne. Und das reicht.
Teil 7: Epilog – Arbeiten im Sturm
Ich habe verstanden: Jede Generation von Künstlern muss durch diesen Sturm.
Mal ist es die Kamera, mal das Radio, mal Photoshop, heute ist es die KI. Immer stehen Leute am Rand und schreien: „Das ist keine Kunst!“ – und immer sind es die gleichen Argumente.
Doch wer wirklich arbeitet, weiß: Kunst ist nicht das Werkzeug. Kunst ist die Haltung, der Mut, die Entscheidung, der Wille, etwas in die Welt zu setzen, das nicht da war.
Deshalb sitze ich heute entspannter da als früher. Ich höre das Rauschen, nehme es wahr – und arbeite weiter. Weil ich weiß, dass meine Arbeit nicht im Urteil anderer gründet, sondern in meiner eigenen Intention.
10 Tipps für Künstler im Sturm der Debatten
- Lass dich nicht entmutigen. Wer schreit „keine Kunst“, verteidigt nur seine eigene Unsicherheit.
- Definiere deine Sprache. Nenne, was du machst – Synthografie, Collage, Installation. Damit nimmst du den Kritikern das Vokabular.
- Zeig Reihen statt Einzelwerke. Autorschaft erkennt man in Serien, nicht in Zufallstreffern.
- Kuratiere gnadenlos. Verwerfen ist genauso wichtig wie Erzeugen.
- Erzähle deine Geschichte. Menschen interessieren sich für deinen Weg, nicht für deine Tools.
- Arbeite hybrid. Misch alt und neu. Das entzieht dich der Falle „entweder-oder“.
- Schärfe dein Archiv. Notiere, was du wie gemacht hast. Autorschaft entsteht auch im Gedächtnis.
- Lerne laut. Zeig Versuche, Irrtümer, Skizzen. Transparenz macht stark.
- Stell Fragen nach Ethik. Wessen Arbeit zitiere ich, wessen Stimme spreche ich? Verantwortung ist Teil der Form.
- Halte deine Haltung. Am Ende zählt nicht Konsens, sondern Ausdruck. Kunst ist Risiko, nicht Sicherheit.
Weiterführende Links
- Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Essay)
- Susan Sontag: Über Fotografie (Essayband)
- John Berger: Ways of Seeing (BBC-Serie & Buch)
- Hito Steyerl: In Defense of the Poor Image (Essay)
- Lev Manovich: The Language of New Media
- Boris Groys: Über das Neue
- Ars Electronica Archiv – Geschichte der Computerkunst
- Fotomuseum Winterthur – Fotografie im digitalen Wandel
- Content Credentials (C2PA) – Bildherkunft & Transparenz












